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Andacht für die Opfer der Corona-Pandemie

Liebe Mitmenschen,

in dieser unbeschreiblich schweren Zeit ist es uns ein Herzensanliegen, immer wieder über Mitgefühl nachzudenken und wahres Mitgefühl in uns zu erwecken.

Als Thich Nhat Hanh das nachfolgende Gedicht verfasst hat, gab es noch keine Coronapandemie. Auch wenn Corona und seine dramatischen Folgen nicht in diesem tiefgründigen Gedicht erwähnt sind, lehren uns die Worte Thich Nhat Hanhs in diesem Gedicht, uns auch in die Menschen mit Gefühl hineinzuversetzen, die durch die Folgen der Pandemie betroffen sind.


Diese Menschen sind WIR.


Echtes Mitgefühl entsteht aber nicht nur dadurch, dass wir uns in die Menschen hineinversetzen, die die direkten Opfer dieser Pandemie sind. Echtes Mitgefühl entsteht auch dadurch, uns in die hineinzuversetzen, die diese Pandemie leugnen, verharmlosen und die Angst und Spaltung schüren und vorantreiben.


Es sind die Menschen, deren Herzen -so wie es Thich Nhat Hanh beschreibt- blind und besessen sind von Gier, Hass und Verblendung. Wir alle sind gefordert zu erkennen, dass es auch in uns aggressive Anteile gibt, die wir nicht blind ignorieren dürfen. Wir dürfen diese aggressiven Anteile deshalb nicht ignorieren, weil wir ansonsten in eine selbstgerechte und gönnerhafte Überheblichkeit verfallen, die mit Altruismus, echter Hilfsbereitschaft und bedingungslosem Wohlwollen nichts mehr zu tun hat.


Ganz besonders möchten wir heute den Opfern in der Ukraine gedenken, die sowohl von Corona, als auch von dem Krieg betroffen sind. Mögen alle Wesen in Frieden leben und mögen alle Wesen frei sein von Leid.



Bitte, nenne mich bei meinen wahren Namen!

Thich Nhat Hanh (1928 - 2022)


Betrachte es ganz tief:

Jede Sekunde komme ich an,

sei es als Knospe in einem Frühlingszweig

oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,

der im neuen Nest erst singen lernt.

Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume

oder als Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme stets gerade erst an,

um zu lachen und zu weinen,

mich zu fürchten und zu hoffen.

Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod

von allem, was lebt.

Ich bin die Eintagsfliege,

die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.

Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen.

Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.

Und ich bin die Ringelnatter,

die in der Stille den Frosch verspeist.

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,

mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke.

Und ich bin der Waffenhändler,

der todbringende Waffen nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot,

das von Piraten vergewaltigt wurde

und nur noch den Tod im Ozean sucht.

Und ich bin auch der Pirat,

mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros

mit reichlich Macht in meinen Händen.

Und ich bin der Mann, der seine Blutschuld an sein Volk zu zahlen hat

und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Meine Freude ist wie der Frühling.

So warm, dass sie die Blumen auf der ganzen Erde erblühen läßt.

Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom.

So mächtig, dass er alle vier Meere ausfüllt.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich all mein Weinen und Lachen zugleich hören kann.

Damit ich sehe, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich erwache!

Damit das Tor meines Herzens von nun an offen steht,

das Tor des Mitgefühls.


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